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Warum erwachsen werden? - Eine philosophische Ermutigung
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Warum erwachsen werden? - Eine philosophische Ermutigung
von: Susan Neiman
Hanser Berlin, 2015
ISBN: 9783446248694
240 Seiten, Download: 3802 KB
 
Format: EPUB
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

Mögliche Welten


Eine wichtige Frage gleich vorab: Ist die Philosophie überhaupt imstande, uns etwas über einen so vielgestaltigen Prozess wie das Erwachsenwerden zu sagen? Philosophen handeln mit allgemeinen Wahrheiten – manche suchen immer noch nach solchen notwendiger oder universeller Art –, doch schon wenige empirische Daten zeigen, dass Erwachsenwerden etwas Besonderes ist. In Samoa aufwachsen ist nicht dasselbe wie in Southampton aufwachsen. Selbst innerhalb ein und derselben Kultur können Jahrzehnte einen beträchtlichen Unterschied ausmachen, und nach Jahrhunderten ist das Terrain oft nicht wiederzuerkennen. Der französische Historiker Philippe Ariès behauptete, im frühen Mittelalter habe es den Begriff der Kindheit in Europa nicht gegeben; vor dem 12. Jahrhundert habe man Kinder nicht für beachtenswert genug gehalten, um sie auf Gemälden zu porträtieren, und wenn doch, so malte man sie als kleine Erwachsene, die sich weder in Merkmalen noch im Ausdruck von diesen unterschieden. Spätere Historiker kritisierten Ariès, er habe allzu rasch von der Ikonographie auf die Begriffe geschlossen, doch seine wichtigste Erkenntnis hat heute noch Bestand: Welche Vorstellung das Mittelalter auch immer von der Kindheit hatte, sie war nicht dieselbe wie unsere heutige. Wenn wir uns auf Bilder konzentrieren, können wir uns sogar fragen, ob Ariès’ Vorstellung von Kindheit mit unserer heutigen übereinstimmt. Als er 1960 sein epochales Werk über die Geschichte der Kindheit schrieb, konnte er sich da vorstellen, wie leicht manche von uns heute Babyvideos aufnehmen und miteinander teilen, die abgesehen von einigen wenigen Sozialwissenschaftlern allenfalls für die Großeltern des Babys oder dessen zukünftigen Ehepartner interessant sein dürften?

Sicher veränderte sich etwas, als dies möglich wurde, aber nichts davon war so dramatisch wie die Veränderungen, die eintraten, als die Menschen anfingen, es für selbstverständlich zu halten, dass ihr Nachwuchs das Kleinkindalter überlebte. Im 17. Jahrhundert waren französische Kinder mit Geburt und Tod ebenso vertraut wie mit der Sexualität, und das nicht nur in Bauernhäusern, wo das Leben unausweichlich in einem einzigen Raum stattfand. Das Tagebuch des königlichen Leibarztes Héroard enthält Beobachtungen wie diese, die festgehalten wurden, als der zukünftige König Ludwig XIII. ein Jahr alt war: »Er lacht aus vollem Halse, als die Kinderfrau mit den Fingerspitzen seinen Pimmel hin und her bewegt.« Ein reizender Scherz, den das Kind sich unverzüglich zunutze macht: »Mit einem Heh! (macht er einen Pagen auf sich aufmerksam), hebt seinen Rock hoch und zeigt ihm seinen Pimmel. […] Sehr lustig, übermütig; läßt jeden seinen Pimmel küssen.«8

In unserem aktuellen Eifer, Jahrzehnte wettzumachen, in denen der Kindesmissbrauch ignoriert wurde, sollten wir uns daran erinnern, dass nicht jede Form von Aufmerksamkeit für die kindliche Sexualität als Missbrauch zu werten ist. Im Frankreich der frühen Neuzeit galt solch ein Verhalten als vollkommen normal, und zwar bis zum Alter von sieben oder acht Jahren, danach erwartete man von Kindern mehr Zurückhaltung im Umgang mit Sexualität. Das ist so weit entfernt von viktorianischen Erwartungen hinsichtlich kindlicher Unschuld oder von unserer gegenwärtig verstärkten Besorgnis über Kinderschänder, dass man durchaus die Frage stellen kann, ob es in diesen drei Epochen wirklich dasselbe war, den Körper eines Kindes zu haben.

Den Verstand eines Kindes zu haben konnte nicht dasselbe sein in einer Zeit, die noch nicht die Bedeutung der Erziehung hervorhob oder die Kinder in neuen, als Schulen bezeichneten Institutionen von den Erwachsenen trennte. Im frühmittelalterlichen Europa holte man die Kinder zumeist in die Arbeitswelt der Erwachsenen hinein, sobald sie alt genug waren, eine Werkstatt auszufegen. Die Erwartung, Jungen sollten von den Erwachsenen getrennt werden und einen Ausbildungsprozess genießen oder ertragen, nahm ihren Anfang im 17. Jahrhundert und brachte den modernen Gedanken einer langen Kindheit hervor. Die Kindheit von Mädchen und Jungen aus armen Schichten war weiterhin kürzer als die von Kindern, die man zur Schule schickte. Und selbst bei ihnen fragt sich, welche Gemeinsamkeiten kindlicher Erfahrungen in einer Zeit bestanden, als Schulkinder bewaffnet waren und immer wieder gegen ihre Lehrer rebellierten wie bei jenem Vorfall im französischen Die. Dort

verbarrikadieren sich 1649 die Logikschüler im Kolleg, verwehren den Lehrern und den Schülern der anderen Klassen den Zutritt, feuern Pistolenschüsse ab, besudeln die Katheder der ersten und der dritten Klasse, werfen die Bänke der zweiten zum Fenster hinaus, zerreißen die Bücher und verlassen die Schule schließlich durch die Fenster der vierten Klasse.9

Ariès erklärt, in Frankreich hätten die großen Schulmeutereien im späten 17. Jahrhundert aufgehört, doch in England setzten noch im 19. Jahrhundert Schüler ihre Bänke und Bücher in Brand und zogen sich auf eine Insel zurück, wo eine Kompanie Soldaten ihrem Treiben ein Ende setzen musste. Der Begriff der Kindheit und Jugend unterschied sich ebenso deutlich von unserem heutigen wie der Begriff des darauf folgenden Erwachsenseins:

Erfolg haben, das heißt nicht ein Vermögen oder eine angesehene Stellung erlangen, oder jedenfalls ist das der sekundäre Aspekt; es heißt vor allem anderen, daß man in einer Gesellschaft, deren sämtliche Mitglieder sich nahezu täglich sehen, voneinander hören, einander begegnen, einen angeseheneren Rang erobert.10

Parallelen lassen sich immer konstruieren – manche Formen des Verhaltens auf Facebook kommen einem da in den Sinn. Doch selbst diese wenigen Beispiele machen klar, wie sehr die Vorstellungen der frühen Neuzeit von den Lebensaltern sich von den heute gültigen unterscheiden. Insbesondere behaupten zeitgenössische Historiker, schon die Vorstellung einer glücklichen Kindheit trete erst in der Moderne auf. Abgesehen von ein paar liebevollen Bemerkungen über seine Mutter, hat kaum ein antiker griechischer oder chinesischer Autor seine Kindheit als golden beschrieben oder nostalgische, sehnsüchtige Gefühle für sie zum Ausdruck gebracht.11 Im 17. Jahrhundert führte der französische Philosoph René Descartes die unglücklichen Gefühle des Menschen darauf zurück, dass wir unser Leben als Kinder beginnen.

In jüngerer Zeit zeigte die amerikanische Anthropologin Margaret Mead in einer Studie über heranwachsende Mädchen auf der anderen Seite der Erde, in Samoa, dass diese Phase für sie dort die Zeit ihres Lebens war. Mead meinte das wörtlich. Als sie ihr Buch über Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften schrieb, verbrachten die meisten jungen Mädchen dort ihre Zeit mit dem Hüten von Kleinkindern. Ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren sah sie die Mädchen auf Samoa meist mit einem Baby auf den Hüften; bis zum Alter von acht oder neun Jahren kümmerten sich auch Jungen häufiger um jüngere Geschwister. Für beide Geschlechter bestand das Kinderhüten hauptsächlich in dem Bemühen, die Kleinkinder still zu halten, solange die Erwachsenen in Hörweite waren. In der späteren Kindheit veränderten sich die Anforderungen ein wenig: »Ein Feuer oder eine Pfeife, die angezündet werden soll, ein Getränk, das gebracht, eine Lampe, die angesteckt werden muß, Kindergeschrei, Aufträge der launischen Erwachsenen – all das verfolgt sie vom Morgen bis zum Abend.«12

Wenn die Familien in Samoa kleiner wären, schreibt Mead, würde das die Gesellschaft in zwei Gruppen spalten; die eine Hälfte wäre ängstlich bemüht und aufopferungsvoll, die andere tyrannisch und eigensüchtig.

Aber gerade immer dann, wenn ein Kind das Alter erreicht hat, in dem sein Eigensinn unerträglich wird, wird ihm ein Kleines aufgehängt, und der ganze Prozeß fängt von vorn an, so daß jedes Kind durch die Verantwortung für ein Jüngeres erzogen und sozial brauchbar wird.13

Die Einführung eines staatlichen Schulwesens hat in Samoa inzwischen zu einer vollständigen Umorganisation der überkommenen Haushaltsstrukturen geführt, und es ist leicht, jene Kinder zu bemitleiden, die zu Zeiten der Mead’schen Forschungsarbeit nicht die Freiheit genießen konnten, die wir für ein unverzichtbares Element der Kindheit halten. Dennoch ist klar, dass samoanische Kinder etwas hatten, was unseren Kindern fehlte: die Erfahrung, einen sinnvollen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Unsere Kinder spielen mit Autos oder einem Puppenservice und ahmen damit Aufgaben nach, die sie als Erwachsene übernehmen werden; das samoanische Mädchen, das den kleinen Bruder hütete, übernahm dagegen eine wichtige Aufgabe, die es ihrer Mutter in den Zeiten zwischen ihren Schwangerschaften ermöglichte, auf dem Riff zu fischen oder auf dem Feld zu arbeiten. Statt des langen Zeitraums, in dem es kaum Pflichten gibt und der Sinn allenfalls in der Vorbereitung liegt – unsere Kinder werden nach ihrer Leistung in Prüfungen beurteilt, die sie auf wirkliche Aufgaben vorbereiten sollen, aber oft in keiner Beziehung dazu stehen –, taten samoanische Kinder Dinge, die wichtig waren, und das war ihnen auch bewusst. Meads These, wonach ihr Leben dadurch eine größere Kohärenz erhielt als unseres, darf nicht als Entschuldigung für die Millionen Kinder herhalten, die auch heute noch unter entsetzlichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden, vor allem in Asien und Afrika; vielmehr sollte sie uns dazu veranlassen, sorgfältig über Dinge nachzudenken, die wir für selbstverständlich halten.

Nach der Pubertät waren samoanische Mädchen jedoch von den mühsameren Arbeiten befreit, die jüngeren Mädchen zugewiesen wurden, bis...



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