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Religion ohne Religionen - Essays über das, was wir hinter uns lassen, und über das, was wir mitnehmen wollen
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Religion ohne Religionen - Essays über das, was wir hinter uns lassen, und über das, was wir mitnehmen wollen
von: Adrian Naef
Elster Verlag, 2015
ISBN: 9783906065823
400 Seiten, Download: 917 KB
 
Format: EPUB
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

Einleitung


Wir befinden uns möglicherweise im größten Umbruch der letzten zwei Jahrhunderte. Es könnte auch der größte Umbruch aller Zeiten sein; wer kann das wissen? Und weil wir mitten in ihm umgetrieben werden, merken wir ihn nicht einmal – so wenig, wie ein Fisch das Wasser wahrnimmt, in dem er schwimmt. Oder so wenig, wie die Menschen zu Gutenbergs Zeiten wissen konnten, was diese Handwerker in den «Garagen» ihrer Zeit gerade anstießen, als sie aus den Pressen der Weinbauern Druckerpressen entwickelten und das Wissen explodierte. Heute zeigen neue biologische, medizinische und technische Möglichkeiten, weitergetragen von einem Kommunikationsnetz fast in Lichtgeschwindigkeit, Perspektiven, die unsere bisherigen Gesellschafts- und Generationenverträge umpflügen werden wie nie zuvor. Es sind nicht allein die Umwälzungen, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat« es ist vor allem der Eintritt der Gesellschaften in die globalisierte Gesellschaft.

Beängstigend ist nicht das Neue, sondern das Tempo, das wir uns zumuten und das uns immunisiert gegen Ungeheuerlichkeiten wie das Ausspionieren unserer Privatsphäre bis in die Schlafzimmer hinein. Werden wir es schaffen? Wird der Weltmeister der Anpassung – der Mensch – es schaffen, die Turbulenzen der Reibung zwischen dem Althergebrachten und dem Neuen, den Ethnien und Klassengegensätzen, den Naturkräften und den Betonmischern, zu verkraften?

Das Gut-böse-Denken und das Links-rechts-Schema der politischen Debatten erscheinen vor diesem Hintergrund geradezu vernachlässigbar. Neue Positionen werden bereits schüchtern bezogen. Wo sich früher Parteien nach klassischen ideologischen Mustern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts organisierten, haben heute kulturelle und soziale Bewegungen in lockeren Verbindungen Zulauf

– die «Piraten» in den mittel- und osteuropäischen Ländern sind, trotz ihrer Wahldebakel und ihres Niedergangs, ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich neue geistige Bewegungen schnell formieren: Sie tauchen auf und verschwinden vielleicht auch wieder, doch die durch sie verkörperte soziale Kraft kann sich ebenso schnell wieder neu organisieren und veränderte soziale Gruppierungen bilden. Sie organisieren sich nicht mehr nach den Mustern der klassischen Soziologie, also nach produktionsorientierten Schichten (aus der Bauernschaft, der Arbeiterklasse oder den herkömmlichen Mittelschichten), sondern mit ihren digitalen Hilfsmitteln nach ihren ideologischen Interessenlagen.

Am meisten durchgeschüttelt werden die alten Weltreligionen, auch wenn diese Altherrenbastionen noch heftig verteidigt werden. Gleichwohl ahnen ihre Führer, dass sie ohne radikale Reformen keine Zukunft haben werden. Aber reichen Reformen noch aus? Wie können Häuser renoviert werden, deren Fundamente inzwischen auf Sand gebaut erscheinen, während sie sich früher auf den Felsen verordneter absoluter Glaubensgewissheit abstützen konnten?

Unsere Antwort auf die Herausforderungen dieser Zeit wird vorerst eine politische sein müssen. Gott oder andere Götter haben zwar über Jahrtausende ein moralisches Regelwerk zum Erkennen von Gut und Böse geliefert, und das System hat trotz aller menschlichen, sozialen und militärischen Katastrophen als Kompass für das eigene Verhalten funktioniert. Doch es reicht nicht, «es» gut zu meinen, Freiwilligenarbeit zu leisten, barmherzige Spenden zu geben und zu einem personalen Gott zu beten. Die technischen und medialen Umwälzungen haben alle menschlichen Vorgänge derart beschleunigt, dass gesellschaftliches Fehlverhalten nicht mehr mit moralischen oder religiösen Appellen behoben werden kann. Die Schamlosigkeit verschiedener Medien, die Arroganz arrivierter Forscher, die Zügellosigkeit einiger Wirtschaftskapitäne kann nur politisch in Schranken gewiesen werden.

Früher konnten Kaiser und Könige durch die Drohung der Exkommunikation durch den Papst in die Knie gezwungen werden. Davon ist in der kollektiven Erinnerung nur noch der Spruch vom «Gang nach Canossa» übrig geblieben, jener Buß- und Bittgang des deutschen Königs Heinrich IV. im Jahr 1077. Drei Tage musste der Salier-König im Büßerhemd vor der Burg Canossa stehen, bis ihn Papst Gregor am vierten Tag vom Kirchenbann erlöste. So mächtig war der Glaube, dass er Könige in den Staub drücken konnte.

Doch die Allmacht der zentralen religiösen Autorität ist gebrochen. Der zivilisierende Impuls der großen Religionen, den sie trotz schlimmer Verirrungen allerortenlange Zeit hatten, ist verpufft. Der Verstand muss uns eingeben, dass zum Wohle unserer Kinder und Enkel auch gegen die eigenen kurzfristigen Interessen entschieden werden muss.

Heute ist der Wille nach Wachstum mit allen Mitteln zur Religion geworden, neben vielen anderen Ersatzreligionen, die auch nichts taugen. Aber ihr Aufkommen zeigt, dass Glauben auch mit anderen Mythen verbunden sein kann als mit einem einzigen Gott – oder mit mehreren Göttern. Oder auch ganz ohne einen personalen Gott, wie der Buddhismus zeigt.

Wenn islamische Konfessionen aufeinander schießen und es drei christliche Konfessionen seit Jahrhunderten nicht einmal fertigbringen, ein sakrales Abendmahl gemeinsam einzunehmen (so sieht Ökumene aus), ist jede Hoffnung verloren und jede ihrer schönen Behauptungen widerlegt; ihre Oberhoheit über den menschlichen Geist haben sie längst verloren.

Es gibt bislang nur eine Konsequenz: die Orientierunglosigkeit des Menschen in den modernen Dienstleistungs- und Industriegesellschaften. Der Zweifel in die Wirkungsmächtigkeit in die bestehenden Glaubenssysteme frisst den moralischen Kern unserer Gesellschaften an und beeinflusst sogar Männer und Frauen, die in den religiösen Institutionen tätig sind. Sie zweifeln am System der Wissens- und Glaubensvermittlung, aber nicht an Gottes Existenz an sich. Bereits gibt es in der Schweiz eine Pfarrerin, die offen bekennt, dass sie nicht an einen Gott glaubt. Und in England sollen es sogar fünfhundert Geistliche sein.

Das klassische Inventar der monotheistischen Religionen ist in weiten Teilen nicht mehr nachvollziehbar, auch wenn es im Kern keine neuen Themen geben kann auf dem Gebiet, das man gemeinhin «Seele» nennt. Seit dem Entstehen der ersten der drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) vor rund dreitausend Jahren ist weder beim Judentum noch ihren Folgereligionen eine wesentliche Anpassung an den Zeitgeist vorgenommen worden. Zwar führte die Reformation zu einer notwendigen, reinigenden Rückwendung an das Wort. Das Wort aber blieb das Gleiche, Gottvater blieb im Himmel und auch der protestantische Teufel durfte weiterhin sein Unwesen treiben. Frauen und Zweifler wurden weiterhin auf die Scheiterhaufen gestellt oder im Zürich des Huldrych Zwingli (1484–1531) in der Limmat ertränkt. Ob der Scheiter von der alten oder neuen Kirche angezündet wurde, das Ertränken von einem Scharfrichter der Neu- oder der Altgläubigen durchgeführt wurde, macht letztlich keinen Unterschied.

Im Glaubensgebäude der jüngsten der Weltreligionen, dem Islam, liegen selbst für Steinigungen noch entschuldigende Glaubenssätze parat. Im Vatikan und nicht nur in Niederbayern werden noch fröhlich Dämonen exorziert. Bisher hat sich der neue Papst Franziskus nicht daran gestoßen, im Gegenteil. Solchen aus barer Trägheit des Geistes und unverzeihlicher Ignoranz erwachsenden Ungeheuerlichkeiten kann nur durch Empörung begegnet werden, ein Begriff, den der französische Essayist Stéphane Hessel (1917–2013) in seinem fulminanten Essay «Empört Euch!» erst kürzlich mit gutem Recht wieder zur Debatte gestellt hat.

Immerhin stamme ich noch aus einer Zeit, als Empörung einiges in Bewegung gebracht hat. Ich werde mich nicht zurückhalten, wo sie mich ergreift, und ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, dieses Buch zu schreiben, wenn Enttäuschung und Empörung vor dem Versagen der Kirchen nicht die Triebfeder wäre. Denn nichts hätten wir in Zeiten zunehmender Anonymität nötiger als Räume der Zusammenkunft und des Kennenlernens, wofür Kirchen und Kathedralen mit ihren Glockentürmen zum Zusammerufen der Festgemeinde geradezu bestens geeignet wären …

Aber die einfache, scheinbar auf Vernunft basierende Alternative – der völlige Atheismus – erweist sich auch nicht als Alternative. Vor fünfunddreißig Jahren wunderten sich meine linken Genossen, warum ich mich mit Religion auseinandersetzte. Im real existierenden Sozialismus sei dieses Thema ohnehin vom Tisch. Wie man sich irren kann: Der real existierende Sozialismus hat sich verflüchtigt, nicht aber die christliche Religion. Das ändert nichts daran, dass wir hier das letzte Aufbäumen eines Todkranken beobachten.

Und so dümpeln wir dahin mit unserer unbestreitbaren Sehnsucht nach Halt und Ritualen, suchen Halt bei Ersatzreligionen, die das Zeug zur gleichen Inbrunst nicht haben, oder klammern uns aneinander, dass die Handys rauchen.

Gläubige, die glauben, nun nicht mehr zu glauben, nur weil sie aus der Kirche ausgetreten sind, irren sich gewaltig. Ich kann in fünf Minuten aus der Kirche austreten, aber bis die Kirche aus mir austritt, kann ich lange warten. Sie hat über meine Vorfahren Jahrhunderte Zeit gehabt, sich im menschlichen Leben, im gesellschaftlichen kollektiv zu verankern.

Die neuen Glaubensfragen, der Katholizismus der ästhetischen Apple-Kirche mit ihren Ritualen und dem angebissenen Apfel-Logo, und der nüchtern belehrende und nie mehr verzeihende Protestantismus namens Google plündern fleißig das religiöse Inventar der Alten und zeigen in ihrer Begeisterungsfähigkeit selbst hier Anzeichen unseres unabdingbaren Bedürfnisses nach Religion.

Es brauchte Jahrtausende, um ein geistiges...



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