2 Störungswissen und Erklärungsmodelle (S. 8-9)
Wir werden im Folgenden die Befunde der Grundlagenforschung zu Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung der BES in ein kognitiv-behaviorales Modell der Fallkonzeption einordnen (vgl. Kapitel 2.2). Dies ist dadurch begründet, dass die kognitiv-behaviorale Therapie bisher die meisten Wirksamkeitsbelege für die Behandlung der BES vorgelegt hat (vgl. Kapitel 4) und daher in den wissenschaftlichen Leitlinien der Fachgesellschaften die Behandlung der BES primär durch kognitiv-behaviorale Methoden empfohlen wird. Des Weiteren möchten wir durch diese Darstellungsform Praktikern die Nutzung der Befunde im Rahmen einer kognitiv-behavioralen Fallkonzeption nahelegen und erleichtern.
Vorangestellt werden Überlegungen zur Ätiologie der BES, wie sie im Rahmen einer interpersonellen Psychotherapie der BES formuliert werden (vgl. Kapitel 2.1). Die Begründung für die Auswahl dieser Fallkonzeption liegt darin, dass die interpersonelle Psychotherapie ebenfalls überzeugende Wirksamkeitsbelege für die Behandlung der BES erzielt hat, wenn auch nicht in dem Umfang wie die kognitiv-behaviorale Therapie (vgl. Kapitel 4).
2.1 Interpersonelle Theorie der BES
Die interpersonelle Psychotherapie (IPT) wurde zunächst für die Akutbehandlung unipolar-depressiver Episoden entwickelt und dann auf andere psychische Störungen, u.?a. die BES übertragen. Eine Fallkonzeption der BES im Rahmen einer interpersonellen Theorie fokussiert auf interpersonelle Probleme als Auslöse- und Aufrechterhaltungsfaktoren der BES. So gehen Wilfley, Pike und Striegel-Moore (1997) in ihrem interpersonellen Erklärungsmodell der BES davon aus, dass individuelle Faktoren der BES – wie das Diäthalten oder ein gezügelter Essstil – in Wechselwirkung mit interpersonellen Faktoren (z.?B. Familienprobleme wie psychische Erkrankungen der Eltern, ein hohes Ausmaß an Kritik, Missbrauchserfahrungen, Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung) zur Entwicklung eines vulnerablen Selbst führen (z.?B. zu einem geringen Selbstwert). Dieses vulnerable Selbst soll mit interpersonellen Problemen und Schwierigkeiten in der Affektregulation assoziiert sein. Die Essanfälle im Rahmen der BES werden als Versuch verstanden, interpersonelle Probleme zu bewältigen. Ebenso wird davon ausgegangen, dass Essstörungen im Kontext interpersoneller Probleme konzeptualisiert werden können, weil Patienten mit einer Essstörung auch über interpersonelle Probleme berichten und die Essstörung umgekehrt auch Einfluss auf die Entwicklung interpersoneller Kompetenz nehmen könnte. Zudem wird vermutet, dass interpersonelle Probleme zur Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls beitragen können, wodurch sich wiederum die Essstörung verschlimmern könnte.
Insgesamt sind die Überlegungen zur Ätiologie der BES aus der Perspektive der IPT recht vage und allgemein gehalten sowie bisher wenig evidenzbasiert, sodass von einer überzeugenden wissenschaftlichen Theorie zur Ätiologie und Aufrechterhaltung der BES aus Sicht der interpersonellen Theorie derzeit noch nicht ausgegangen werden kann. Demgegenüber ist die Wirksamkeit der Behandlung im Sinne der IPT bei der BES bereits durch eine Reihe von Studien belegt (Hilbert, 2015).
2.2 Kognitiv-behaviorale Theorie der BES
Grundannahme eines kognitiv-behavioralen Modells der BES ist, dass die BES multifaktoriell bedingt ist, also auf die individuelle Person bezogene Faktoren (psychische, biologische, verhaltensbezogene Faktoren), umweltbezogene Faktoren sowie die Wechselwirkung der verschiedenen Faktoren für die Ätiologie und Aufrechterhaltung der BES von Bedeutung sind. Die Berücksichtigung von individuellen und umweltbezogenen Faktoren im Rahmen von Problem- und Verhaltensanalyse-Modellen zur Erklärung der BES ist nicht immer eindeutig; so können externe, also umweltbezogene Faktoren, nicht per se verhaltenswirksam werden. Dies geschieht stattdessen nur vermittelt über die Art der Wahrnehmung bzw. über die kognitiv-affektive Repräsentation der externen Faktoren. Im Unterschied dazu können interne Faktoren das Verhalten auch dann steuern, wenn sich dafür kein Pendant auf Seiten der externen Faktoren finden lässt (z.?B. Erinnerungen, Sorgen, Vorstellungsbilder als Auslöser von Essanfällen, u. U. vermittelt über negative Gefühle).
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