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100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland - Von einem Spezialfach zur Integrationsdisziplin
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100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland - Von einem Spezialfach zur Integrationsdisziplin
von: Markus Beiler, Benjamin Bigl
UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2017
ISBN: 9783739801308
368 Seiten, Download: 8121 KB
 
Format: EPUB
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

Erich Everth und die Erfindung der Zeitungskunde als Integrationswissenschaft. Zur Vorgeschichte der interdisziplinären Identität der Kommunikationswissenschaft


Erik Koenen


1 Einführung


Die Kommunikationswissenschaft definiert sich im Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft als „theoretisch und empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Bezügen“, die sich für die „sozialen Bedingungen, Folgen und Bedeutungen von medialer, öffentlicher und interpersonaler Kommunikation“ interessiert (DGPuK 2008: 1; vgl. Karmasin/Rath/Thomaß 2014). Erfolgreich etabliert hat sich diese integrative Variante von Fachwissenschaft im Selbstverständnis der Disziplin im Prozess der sozialwissenschaftlichen Modernisierung und Umorientierung der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft zur Kommunikationswissenschaft in den 1960er- und 1970er-Jahren (vgl. Löblich 2010a, b). Dass „diese Grundkonzeption des Faches keineswegs neu war“ (Kutsch/Pöttker 1997: 11), ging dabei in den damaligen Debatten weitgehend unter – und noch heute wird die historische Identität der Kommunikationswissenschaft als Integrationswissenschaft nur selten thematisiert.

Interdisziplinarität, Perspektivenvielfalt, Pluralismus von Erkenntniskonzepten sowie Methoden und Theorien waren bereits zentrale Koordinaten in dem originären Fachkonzept von Erich Everth, der 1926 den Ruf als Nachfolger des Nestors der Zeitungskunde Karl Bücher an die Universität Leipzig bekam und der deutschlandweit erste ordentliche Professor des Fachs wurde (vgl. Bohrmann/Kutsch 1979, Koenen 2015b, 2016). Wie wohl kein anderer Zeitungskundler der Weimarer Zeit steht Everth für die von Stefanie Averbeck und Arnulf Kutsch (2002: 60f.) als Definitionsphase gekennzeichnete Phase der Grundlegung der Zeitungskunde als Wissenschaft, in der „öffentliche Kommunikation und ihre sozialen Bedingungen“ als „exklusives Problem“ des Fachs erkannt wurde. Zeitweise fachpolitisch hoch engagiert hat Everth erstmals eine konsistente wissenschaftliche Perspektive für die gerade einmal ein Jahrzehnt alte akademische Disziplin Zeitungskunde entworfen. Nach seiner Einschätzung steckte die Zeitungskunde als Wissenschaft in einer Legitimationsfalle, die er vor allem auf das Ungleichgewicht von institutionellen Wachstum und wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit und Relevanz zurückführte. Ohne Fachprofil seien die zahlreichen Institutsgründungen aus der ersten Hälfte der 1920er-Jahre, so Everth, „nur äußere Veranstaltungen, organisatorische Einrichtungen, die allein noch nicht die Überzeugung in den Fakultäten verbreiten, daß da wirklich eine eigene Disziplin im Werden ist.“ (Everth 1928b: 1878). Ziel Everths war es daher, dem Fach überhaupt erst einmal wissenschaftliche Grundlagen zu geben und mit einem disziplinspezifischen Selbstverständnis Identität und disziplinäre Perspektive der Zeitungskunde zu profilieren.

Vor diesem Hintergrund soll in diesem Beitrag das originäre Fachprogramm Erich Everths als vergessene historische Wurzel der Identität der Kommunikationswissenschaft als Integrationswissenschaft im Mittelpunkt stehen. Dabei richtet sich der Blick zunächst allgemein auf die Bedeutung und Rolle von Fach- und Selbstverständnissen, um innerhalb von Disziplinen die Grundlagen und Voraussetzungen von Wissenschaftlichkeit zu diskutieren und disziplinäre Identitäten kognitiv und sozial zu stabilisieren. Im Weiteren werden Everths programmatische Überlegungen für ein Fach- und Selbstverständnis der Zeitungskunde vorgestellt. Schließlich wird der Frage nachgegangen, warum sich seine Vorstellungen trotz des hohen Innovations- und Integrationspotentials nicht in der zeitungskundlichen Fachgemeinschaft durchsetzen konnten und stattdessen in Vergessenheit gerieten.

2 Fach- und Selbstverständnisse im Zusammenhang disziplinärer Verwissenschaftlichungsprozesse


Erich Everths Ziel, die Zeitungskunde über ein originäres Fachprofil als exklusive wissenschaftliche Disziplin zu begründen und zu legitimieren, wird in der Wissenschaftsforschung unter dem Stichwort Fach- bzw. disziplinäres Selbstverständnis diskutiert. Gemeint ist damit das, so Hubert Laitko (1999: 23), „was die betreffende Disziplin darstellt und worin sie sich von anderen unterscheidet. Dieses Selbstverständnis oder Selbstbild einer Disziplin wirkt nach innen identitätsstiftend, nach außen legitimatorisch.“ Wie das derzeit geltende Selbstverständnis der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sind solche disziplinären Selbstverständnisse meist als „weiter Rahmen“ angelegt, um die „Vielfalt der Fachgemeinschaft“ widerzuspiegeln (DGPuK 2008: 1). Wie dieses sind sie also bewusst hinreichend präzise wie offen formuliert, um einerseits „den Konsens in den zentralen Fragen des Selbstverständnisses zum gegenwärtigen Zeitpunkt innerhalb des Faches festzuhalten“ sowie andererseits trotzdem „die fachinterne Kommunikation über das Selbstverständnis“ weiter zu steuern – auch und gerade weil „angesichts des raschen Wandels in Gesellschaft und Wissenschaft eine solche Feststellung immer nur vorläufig sein kann“ und stetig „fortgeschrieben“ werden muss (ebd.). Kognitiver Kern eines disziplinären Selbstverständnisses, stellen Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen (1992: 41) am Beispiel der „fachwissenschaftlichen Struktur des historischen Denkens“ heraus, sind die Grundlagen, Normen und Regeln von Fachlichkeit, die orientiert an den beiden Fragen Was heißt es eigentlich „in der Form einer Fachwissenschaft zu denken?“ und Was genau macht dieses Denken „wissenschaftlich und fachlich?“ den Grundnenner des wissenschaftlichen Erkenntnisfundaments einer Disziplin beschreiben und damit deren Erkenntnisprozesse strukturieren. Als gemeinsames, sozial geteiltes Selbstverständnis sind diese disziplinspezifisch definierten „Prinzipien von Fachlichkeit“ somit stets in den Köpfen aller Forscher eines Fachs präsent, sie sind „Teil der Konventionen [...], die im Forschungsprozess vorausgesetzt werden und das Denken der Forschenden bestimmen.“ (ebd.)

So notwendig ein Fach- und Selbstverständnis zur Identität und Legimitation einer Disziplin gehört, so schwierig ist dieses oftmals im konkreten Fall zu fassen: sowohl für die Fachvertreter selbst wie für Wissenschaftsforscher. Hubert Laitko weist in diesem Sinne darauf hin, dass solche Selbstverständnisse „ebenso evident wie schwer explizierbar“ sind und sogar „Autoren von Lehrbüchern regelmäßig Schwierigkeiten haben, in kurzen Worten einleitend zu sagen, was die zu behandelnde Disziplin eigentlich ist“ (Laitko 1999: 24), und Maria Löblich stellt fest, dass die Wissenschaftsforschung zum Thema Selbstverständnis „kaum Operationalisierungen bietet und sich selten auf die empirische Ebene einer konkreten Disziplin begibt.“ (Löblich 2010a: 29) Eines der wenigen Beispiele sind Dirk Kaeslers Studien zur Entstehung der frühen deutschen Soziologie (1984), in deren Zusammenhang Kaesler für die Rekonstruktion disziplinärer Selbstverständigung das Konzept der „Ideengestalt“ entworfen hat. Die Struktur nach der ein Fach seine kognitiven Grundlagen in der Ideengestalt ordnet, besteht für Kaesler aus einer „metaphysischen, methodologischen und exemplarischen Ebene“ (ebd.: 15ff.), wobei er zugleich betont, dass diese Ebenen logisch miteinander verknüpft sind. Im Einzelnen bezieht sich die metaphysische Ebene auf das generelle Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis sowie das dahinter stehende Gesellschafts-, Menschen- und Weltbild; die methodologische Ebene auf den Erkenntniszugang, verwendete Methoden sowie das Wechselspiel von Theorie und Praxis; die exemplarische Ebene auf die konkreten Erkenntnisgegenstände und -interessen eines Fachs. Das in der Ideengestalt kondensierte Selbstverständnis, fasst Maria Löblich Kaeslers Überlegungen zusammen, „enthält also neben Vorstellungen von Situation und Aufgaben eines Fachs auch erkenntnistheoretische, methodologische und gegenstandsbezogene Komponenten“ und es generiert „eine Stimmigkeit zwischen den einzelnen kognitiven Elementen.“ (Löblich 2010a: 32) Forschungspraktisch verweist Löblich auf Beiträge zu fachpolitischen Debatten und Diskussionen als wichtige Kristallisationspunkte, um die Prozesse der Aushandlung sowie die Dimensionen disziplinärer Selbstverständnisse retrospektiv einzufangen und wissenschaftshistorisch zu rekonstruieren: Sie „geben Aufschluss darüber, wie Wissenschaftler die gesellschaftlichen Anforderungen an ihre Disziplin jeweils interpretieren, welche Angebote für neue Fachverständnisse sie entwickeln und wie sie ihre Deutungen und Schlüsse gegenseitig in Frage stellen, verteidigen und stabilisieren. Vor allem aber macht der Ausgang einer Debatte deutlich, welche neuen Standards sich für die gesamte Fachgemeinschaft durchgesetzt haben.“...



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