14 Achtsamkeit und Weisheit in der Suchttherapie (S. 168-169)
Leo Gürtler, Urban M. Studer und Gerhard Scholz
Zur tiefensystemischen Bearbeitung von mental-somatischen Modellen
Mit Tiefensystemik bezeichnen wir eine spezifische Form andauernder, von Empathie und Entwicklungsorientierung geleiteter Bemühungen, anderen Menschen methodisch kontrolliert bei der Bearbeitung dysfunktionaler mental-somatischer Modelle (Denk-, Fühl- und Handlungsmuster) zu helfen.
Ihr liegt die uralte Erfahrung zugrunde, die auf die Erkenntnisse des historischen Buddha zurückgeht,dass (Selbst-)Täuschungen sich auflösenmüssen,wenn ihnen kontinuierlich mit Weisheit durch (Selbst-)Beobachtung auf der Basis von Achtsamkeit begegnet wird. Am Beispiel der Tiefenauseinandersetzung mit Süchtigkeit wollen wir die Tiefensystemik und ihre praktische Realisierung in einem konkreten Kontext vorstellen. Eine tiefensystemische Vorgehensweise ist aber nicht nur auf Sucht beschränkt, sie lässt sich auf eine Vielzahl professioneller Kontexte übertragen (z.B. diverse Berufe im Gesundheitswesen, Case-Management, Ausbildung und Coaching von Führungskräften, Learning Communities, Talentförderung im Sport etc.).
Übertragung bedeutet hierbei nicht einfach Transfer, sondern die systematische Anwendung bestimmter Prinzipien der Selbstauseinandersetzung mit den eigenen mental-somatischen Modellen, die jeweils auf den konkreten Kontext anzupassen sind. Die eigentliche Tiefenauseinandersetzung findet jenseits von Klassifizierungen statt, die als klinisch pathologisch – oder nicht – bezeichnet werden können, und gewährleistet, dass der essenzielle Kern, wie vom Buddha dargelegt, erhalten bleibt. Aus Platzgründen und zur Vereinfachung wird in diesem Kapitel jedoch nur die Umsetzung der Tiefensystemik im Suchtbereich vorgestellt.
Darüber hinaus wollen wir aber auch eine Vision auf der Basis langjähriger praktischer institutioneller Erfahrungen und wissenschaftlicher Evaluation eröffnen. Diese möge sowohl Meditierende in ihren Bemühungen um Professionalisierung als auch Professionelle in ihren Bemühungen um eine Integration der eigenen Meditationserfahrungen gleichermaßen erreichen. Sucht gehört zu den eindrücklichsten Varianten des Verlustes lebenspraktischer Autonomie.
Kaum sonst sind der soziale Abstieg, die fortwährenden Verletzungen des eigenen Körpers, die Unfähigkeit, das eigene Autonomiepotenzial auszunutzen etc. so offensichtlich. Die Behandlung von Sucht steht vor der ständigen Herausforderung, angemessene Rahmenbedingungen zu organisieren, so dass Süchtige tatsächlich diejenigen Erfahrungen machen können, die dazu führen, dass sie sich von ihrer Sucht (schrittweise) lösen und damit gleichzeitig erkennen, dass die rein intellektuelle Einsicht in die eigene Sucht offensichtlich zur tieferen Auseinandersetzung nicht ausreichend ist. In diesem Kapitel wird ein integrativer Ansatz beschrieben, bei dem neben der sozialwissenschaftlichen Perspektive und den neurobiologischen Erkenntnissen das praktisch ausgerichtete Lehrsystem Siddhartha Gautamas, des historischen Buddha, eine integrale Rolle einnimmt.
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