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Flüchtlingskinder - gestern und heute - Eine Psychoanalyse
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Flüchtlingskinder - gestern und heute - Eine Psychoanalyse
von: Hans Hopf
Klett-Cotta, 2017
ISBN: 9783608100891
237 Seiten, Download: 2650 KB
 
Format: EPUB
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

Ein Kriegs- und Vertriebenenkind


Ich bin ein Kriegskind. 1942, in der Mitte des Zweiten Weltkriegs geboren, als nach der Schlacht von Stalingrad kaum mehr verkannt werden konnte, dass der Krieg verloren war. Da damals alle Menschen mit sich, ihren Sorgen und ihrer Hoffnungslosigkeit befasst waren, wurde von Kindern erwartet, keine eigenen Ansprüche zu stellen und sich vielmehr um andere Menschen zu kümmern. Dass sie ihre Pflicht erfüllen und strebsam sein sollten. Bezeichnenderweise hat sich lange Zeit niemand mit diesen Kindern und ihren späteren Schicksalen ausführlich befasst. Erst meine Kollegen Hartmut Radebold und Michael Ermann haben mit Vorträgen, Veröffentlichungen und Büchern über die Lebenswege dieser Kinder berichtet und geschrieben, als sie bereits alte Menschen waren. Sabine Bode hat ein wichtiges Buch über die Kriegskinder verfasst. Flüchtlinge und Vertriebene haben die Zeche bezahlt, deren Schuld überwiegend andere verursacht haben. Wir sind kollektiv schuldig gesprochen worden. Bis heute verstört mich, dass unser Schicksal gleichsam mit den Verbrechen des »Dritten Reichs« aufgerechnet und unsere Leiden als eine unvermeidbare Folge der Untaten der Nationalsozialisten gesehen werden. Festzustellen ist, dass neues Unrecht geschaffen wurde, über das noch viel zu wenig und viel zu spät vorurteilsfrei und sachlich diskutiert worden ist.

Vertreibung – von Teplitz nach Dainrode


Ich bin im damaligen Sudetenland, im heutigen Tschechien, in der Stadt Teplitz-Schönau (Teplice) zur Welt gekommen. Eine Geburtsurkunde besitze ich allerdings nicht, sie ist während der Vertreibung verloren gegangen.

Auch keinen Taufschein, so dass sich konsequent die Frage nach meiner Identität stellt. Denn Identität wird durch Bescheinigungen geregelt, von der Geburtsurkunde bis zum Akademischen Abschluss. Bin ich überhaupt Deutscher? Bin ich Katholik? Überdenke ich meine ethnische Identität, so wird es noch komplizierter. Ich nehme die lebenslangen Anstrengungen wahr, die diese Integration erfordert hat. Ich bin Nachkomme von deutschen, tschechischen und jüdischen Vorfahren, in Tschechien geboren, bin in meinem Leben sechzehnmal umgezogen und schließlich ein schwäbischer Kinderpsychoanalytiker geworden.

Mein Geburtshaus und seinen langsamen Verfall habe ich bei Besuchen immer wieder einmal gesehen. Als ich geboren wurde, war mein Vater als Soldat in Serbien stationiert, meine Mutter musste mit der Betreuung von damals drei Kindern allein fertig werden. Wenig später häuften sich die Luftangriffe auf Teplitz, und wir mussten bei Alarm regelmäßig in den Luftschutzkeller. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass sie mich damals auf dem Schoß festhielt und sich an mich klammerte, weil sie starke Angst hatte. Nach einem Luftangriff erlitt ich einen epileptischen Anfall. Ich vermute, dass meine Mutter nicht nur meine Ängste nicht mildern konnte, sondern dass ich auch noch ihre Paniken in mich aufnehmen musste. Die Anfälle traten von da an regelmäßig auf. Ich erinnere mich, dass meine Mutter bei einer Routineuntersuchung in einem Lager einen Arzt nach den Ursachen fragte. Dieser antwortete etwas zerstreut, er hatte wirklich viel zu tun, dass dies wohl auf mein Zahnen zurückzuführen sei. Bis zum fünften Lebensjahr wiederholten sich diese epilepsieähnlichen Anfälle. Sie hörten auf, als ich nicht mehr bei meiner Mutter, sondern bei meiner Großmutter mütterlicherseits lebte.

1945 war unter Staatspräsident Edvard Beneš die »Liquidierung der deutschen Frage« angeordnet worden, sprich die Vertreibung der Deutschen aus der jetzigen Tschechoslowakei. Bis heute wird die Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung beschönigend als »Abschiebung« bezeichnet. Der Hass der tschechischen Bevölkerung auf die Deutschen war gewaltig. Denn diese hatten dem Anschluss an das Deutsche Reich in der Mehrzahl zugestimmt. Die mehr als drei Millionen Deutschen wurden darum überwiegend als Verräter gesehen. Ein grausamer Rachefeldzug setzte ein. Die Deutschen wurden von den Tschechen drangsaliert, enteignet und schließlich vertrieben. Gemäß dem Historiker Andreas Kossert war die Lage der verfolgten Menschen so beängstigend und demütigend, dass tschechische Quellen allein für das Jahr 1946 unter den Deutschen 5558 Selbstmorde verzeichnet haben.

Von meinen Großeltern väterlicherseits besitze ich lediglich eine Fotografie im Kreis ihrer vier Kinder. Eines davon ist mein Vater. Über die beiden wurde nie viel erzählt. Der Großvater Anton war ein etwas beleibter Mann, was seinerzeit noch ›stattlich‹ genannt wurde. Von ihm habe ich die Statur. Er war Bäcker mit eigenem Geschäft gewesen, wie fast alle seiner Vorfahren. Die Großmutter Anna war eine hübsche, zierliche Frau, die damals vor allem mit der Versorgung ihrer Familie befasst war. Erst als junger Erwachsener habe ich erfahren, dass sich beide suizidiert haben. Als der Bäckermeister Anton in den Ruhestand gegangen war, hielt er die plötzliche Untätigkeit und die Belastungen der Kriegszeiten nur schwer aus. Eine heftige Depression überfiel ihn. Er tötete sich, indem er vom letzten Wagen eines Zuges auf die Schienen sprang und verstarb. Seine Frau lebte danach in einer Dachkammer über der Bäckerei ihrer Tochter Marie, einer Schwester meines Vaters. Einst hatte auch Vater als Konditor mitgearbeitet. Wie wenig später in unsere Wohnung, drangen Tschechen auch in die Bäckerei ein und schlugen alle nieder. Das Geschäft wurde beschlagnahmt. Alle mussten sofort flüchten und Hab und Gut zurücklassen. In Verzweiflung und Panik flüchtete meine Großmutter und ertränkte sich in einem nahe gelegenen Teich. Da war sie 73 Jahre alt, ebenso alt wie ich heute.

Was muss es in ihr ausgelöst haben, als es hieß, innerhalb von Stunden aus der Heimat zu verschwinden, alles zurückzulassen und nicht zu wissen, wohin es überhaupt gehen konnte? Ich glaube nicht, dass wir uns heute die Verzweiflung dieser alten Menschen vorstellen können, die nie woanders gelebt, nichts anderes je gesehen hatten und jetzt im Alter einen kleinen Besitz hatten. Großmutter Anna hatte es einfach nicht ertragen, aus ihrer Heimat vertrieben zu werden, sie konnte sich keine Zukunft vorstellen. Ihr Sohn, mein Vater, war zu jener Zeit noch in Kriegsgefangenschaft; sie haben sich nie mehr gesehen. Mir ist schon als Kind aufgefallen, dass über die Beiden nie gesprochen wurde. Erst als ich diesen Abschnitt schrieb, hat mir ein Cousin die ganze Wahrheit mitgeteilt. Selbsttötung von Angehörigen war lange Zeit schambesetzt und wurde tabuisiert, selbst wenn die Umstände so tragisch und nachvollziehbar waren wie bei meinen Großeltern.

Es wurde bekannt gegeben, dass die Wohnungen gesäubert werden müssten, einige wenige Utensilien dürften mitgenommen werden und dass man sich an den bekannten Sammelplätzen einfinden müsse. Die Geschwister meiner Mutter befolgten diese Anordnung rechtzeitig, während meine Mutter mit uns viel zu lange wartete. Sie hat mir später erzählt, dass alle Verwandten die Wohnung vorher noch gründlich gereinigt hätten, damit ihnen niemand etwas nachsagen könnte. Lediglich eine uns bekannte Familie hatte die Wohnung absichtlich verunreinigt, um ihrer Wut ein wenig Raum zu geben.

Von nun an wurden die Deutschen mit weißen Armbinden diskriminiert. 1946 setzen erste Erinnerungen bei mir ein, vermischt mit Erzählungen von Erwachsenen und späteren Traumbildern. Ich weiß noch, dass ich darauf stolz war, auch eine »weiße Binde« tragen zu dürfen. Mittlerweile waren bereits alle Verwandten geflüchtet, nur wir vier und unsere Großmutter lebten noch in der Koňenova (»Konevstraße«, benannt nach dem russischen Marschall Konev) in Teplice. Die 75-jährige Großmutter versorgte uns tagsüber, denn Mutter und mein ältester, bereits 16-jähriger Bruder waren zur Zwangsarbeit verpflichtet. Eines Abends brach ein Trupp tschechischer Männer in unsere Wohnung ein. Es war der 8. August 1946. Die Männer schlugen meine Mutter brutal zusammen. Die vielen Bücher, die vom Großvater stammten, Werke von Marx, Engels, Bebel, weckten ihren Zorn. Mein Großvater war Gewerkschaftsführer bei den Webern gewesen, über die Gerhart Hauptmann 1892 ein Theaterstück geschrieben hat. Jedes einzelne Buch schlugen die Männer meiner Mutter auf den Kopf. Ich habe keine Erinnerung daran, aber meine Mutter erzählte mir später, wie sie verzweifelt versucht habe, mich zur Ruhe zu bringen, weil sie fürchtete, ich würde womöglich ebenfalls misshandelt werden. Wir mussten alles zurücklassen und durften nur einige Koffer mit den wichtigsten Habseligkeiten packen. Am gleichen Tag noch wurden wir in das ehemalige Lager für Fremdarbeiter der Zeiss-Werke in Teplitz-Schönau gebracht. Es wurde damals als Internierungs- und Durchgangslager genutzt, von wo...



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